Hans Modrow (geb. 1928) war vom 13. November 1989 bis zum 12. April 1990 Ministerpräsident der DDR, später Bundestags- und Europaabgeordneter. Er war Ehrenvorsitzender der PDS und ist seit 2007 Vorsitzender des Ältestenrats der Partei Die Linke.
Am 30. Januar 1990 reisten Sie nach Moskau zu einem Gespräch über deutsche Angelegenheiten mit Michail Gorbatschow, damals Generalsekretär der KPdSU und Präsident der Sowjetunion. Wie kam dieser Besuch zustande, wann wurde er beschlossen?
Von Beschlüssen damals kann man nicht sprechen. Die erste Abmachung, daß es zu einem gründlichen Gespräch kommen muß, wurde am 4. Dezember 1989 getroffen, als ich mit Gorbatschow in Moskau meine erste Begegnung überhaupt hatte. Dort war er zunächst auf ein Treffen mit mir nicht vorbereitet, ich habe über Valentin Falin (damals Leiter der internationalen Abteilung des Zentralkomitees der KPdSU – d. Red..) erst ein wenig »schubsen« müssen. Gorbatschow wertete an diesem Tag vor den Vertretern der Länder des Warschauer Vertrages sein Treffen mit US-Präsident George Bush in Malta am 2. und 3. Dezember aus. Bush informierte gleichzeitig in Brüssel die NATO-Staaten. Mein Eindruck war damals, daß die deutsche Frage in Malta eine untergeordnete Rolle gespielt hatte, denn Gorbatschow zeigte keine Initiative, mit mir allein zu sprechen. In dem Gespräch waren wir uns einig, daß es einen gründlicheren Meinungsaustausch geben müsse.
Das Treffen am 30. Januar 1990 kam auch nach meiner damaligen Meinung viel zu spät. Das Tempo der Entwicklung hatte sich enorm beschleunigt, die Zeit lief davon, und ich verstand nicht, warum auf sowjetischer Seite kein Interesse bestand. Erst später, als ich Erinnerungen von Politikern las, wurde mir das verständlich – weniger bei Gorbatschow selbst als bei Alexander Jakowlew (damals Mitglied des Politbüros der KPdSU – d. Red.) und Anatoli Tschernjajew (außenpolitischer Berater Gorbatschows – d. Red.). Sie bremsten, begannen sich umzuorientieren und überlegten, wieweit die DDR noch Gesprächspartner bleiben sollte und ob die Bundesregierung nicht den Vorrang bekommt. Heute weiß man, daß sie erst am 25. Januar begannen, unser Treffen am 30. intensiv vorzubereiten. Das macht das Vakuum sichtbar, das in der sowjetischen Außenpolitik damals bestand. Auf einer ZK-Tagung der KPdSU am 8. und 9. Dezember 1989 war noch festgehalten worden, daß sie zur DDR als ihrem Verbündeten solidarisch stehen. Wir haben das als klare Aussage bewertet. Heute muß man sagen: Das war mehr nach innen als nach außen gerichtet, um in der Partei und im Land Ruhe zu haben.
Lag das Konzept, die DDR aufzugeben, am 30. Januar schon vor, oder war es nur im internen Zirkel um Gorbatschow schon weit gediehen?
Ich würde umgekehrt sagen – und das ist für mich das Problem: Da man kein Konzept hatte, wurde die Position sofort wacklig, als es um die Interessen der Sowjetunion und der DDR ging.
Die ungestörte Erweiterung der NATO bis an die russischen Grenzen ist auch diesem Versagen der sowjetischen Außenpolitik geschuldet. Die eigenen Interessen und die der Bürgerinnen und Bürger in den Nachfolgestaaten wurden nicht gewahrt.
Es fällt schwer, einfach an ein Umkippen in dieser Frage in einem solch kurzen Zeitraum von Anfang Dezember bis Ende Januar zu glauben. Da soll kein Konzept gewesen sein?
Es gibt zwei Momente, die man leider beachten muß. Wenn der erste Mann des Landes, in diesem Fall also Gorbatschow, sich keinen Rat mehr holt, stehen die Dinge schlecht. So geht es z.B. aus den Memoiren von Marschall Sergej Achromejew, seinem militärischen Berater, hervor. Das Schlüsselereignis war demnach das Treffen mit Bush in Malta. Die US-Seite war umfassend und bestens vorbereitet, während Gorbatschow sich nur mit seinem allerengsten Beraterkreis besprach. Marschall Achromejew und damit das Verteidigungsministerium wurden nicht einbezogen, d.h. der militärische Faktor– es ging immerhin um NATO und Warschauer Vertrag – war auf sowjetischer Seite nicht qualifiziert eingebunden. Dasselbe galt für das Außenministerium. Mein Eindruck ist auch, daß der sowjetische Geheimdienst in geringem Maß einbezogen war und die Entwicklungen, die es auf diesem Feld gab, nur wenig analysiert wurden. Dagegen wußten die US-Geheimdienste sehr genau Bescheid.
Ich würde das heute so bewerten: Gorbatschow saß dem Westen bei Verhandlungen wie ein nackter Mann gegenüber. Er dagegen war – ich will nicht sagen, ihr Kasper –, aber jemand, der unvorbereitet hinging, ein bißchen viel redete und glaubte, er mache Weltpolitik. Das hat die Gewichtsverteilung entscheidend verschoben.
Ein solches Maß an inkompetenter Führung ist in seiner damaligen Position schwer vorstellbar. Wie war Ihr persönlicher Eindruck von Gorbatschow?
Ich hatte diese Bewertung nicht aus dem Gespräch am 4. Dezember mitgenommen. Es war auch nicht das Treffen am 30. Januar, das zu ihr führte. Wir kamen mit einer kleinen Delegation – neben mir waren das der stellvertretende Außenminister Harry Ott und der Pressesprecher der DDR-Regierung. Auf sowjetischer Seite saßen Gorbatschow, der Ministerpräsident Nikolai Ryshkow, der Außenminister Eduard Schewardnadse und Falin. Zu diesem Zeitpunkt hieß unsere Partei schon SED-PDS, die führende Rolle der Partei existierte nicht mehr, es gab keine Absprachen in einem größeren Kreis, sondern ich mußte mich auf meine Experten verlassen, d. h. auf die Überlegungen, wie kann es mit einem Drei-Stufenplan zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten kommen. Ich will heute nachdrücklich sagen, daß wir in diesem Gespräch die Souveränität der DDR so betont haben, wie es vorher wahrscheinlich nicht geschehen war. Denn wir kamen mit einem eigenen Konzept nach Moskau, das dann beraten wurde. Das betraf auch unseren Vorschlag, es auf einer internationalen Pressekonferenz am 1. Februar vorzustellen. Es blieben nur 24 Stunden, in denen es Kontakte zwischen unserem Botschafter Gerd König, Falin und dem sowjetischen Botschafter in der DDR Wjatscheslaw Kotschemassow gab, um sich auszutauschen. Wir wollten ein militärisch neutrales vereinigtes Deutschland, und darüber verständigten wir uns über diese Kanäle am 31. Januar.
Wann wurde dieser Drei-Stufen-Plan entworfen und was waren seine Hintergründe?
Es gab vor allem drei Faktoren, die vor allem mich bewogen haben, das auszuarbeiten. Erstens: In meiner ersten Regierungserklärung am 17. November 1989 war noch klar: Alle fünf Parteien dieser großen Koalition sind der Auffassung, daß nicht die Vereinigung auf der Tagesordnung steht, sondern die Umgestaltung der DDR. Mit dieser Haltung bin ich noch Anfang Dezember nach Moskau gereist. Aber als ich in Moskau erlebte, wie unvorbereitet sich Gorbatschow mit der deutschen Problematik beschäftigte, überlegten Harry Ott und ich, daß wir uns selbst Gedanken über die weitere Entwicklung machen müssen.
Das zweite: Am 9. und 10. Januar fand eine Tagung des Rats für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) in Sofia statt. Dort entwickelte Ryshkow die Initiative, den RGW umzugestalten und den Handel zwischen den RGW-Staaten nicht mehr auf der Basis von transferablem Rubel und den laufenden Verträgen, sondern auf der von freikonvertierbarer Währung zu gestalten. Damit war klar: Auf dieser Grundlage wird die DDR nicht in der Lage sein, ihre wirtschaftliche Entwicklung zu gestalten, Stabilität zu bewahren oder gar auszubauen. Das bedeutet: Politisch und militärisch hielt das Bündnis nicht mehr, auf ökonomischem Gebiet war keine Kooperation möglich. Der RGW-Integrationsprozeß wird sich nicht fortsetzen, es geht auf die deutsche Vereinigung zu.
Drittens: Innerhalb der DDR war die Massenstimmung weiter umgeschlagen. Ich gehöre nicht zu denen, die behaupten, bei uns sei alles marode gewesen. Aber ich mußte zur Kenntnis nehmen, daß uns in den Jahren 1988 und 1989 Hunderttausende Menschen verlassen hatten und daß es das immer wieder, auch noch am 40. Jahrestag beschworene Vertrauen zur Partei und Staatsführung überhaupt nicht gab.
In den ersten beiden Wochen 1990 meldeten sich über 20000 DDR-Bürger in der Bundesrepublik...
Es war also nötig zu handeln. Es galt, selbst in die Offensive zu gehen. Was ich damals nicht völlig überblicken konnte, war die Tatsache, daß auch die USA sehr schnell reagierten. Aus dem Buch von Philipp Zelikow und der späteren US-Außenministerin Condoleezza Rice »Sternstunde der Diplomatie« wird ersichtlich, daß meine Pressekonferenz in Berlin am 1. Februar, auf der ich den Drei-Stufen-Plan öffentlich machte, in Washington sehr genau analysiert worden ist. Mit der Forderung nach einem militärisch neutralen Deutschland war die Durchsetzung der Interessen der USA in Frage gestellt. Daraufhin kam Außenminister James Baker am 8. und 9. Februar nach Moskau und sprach darüber mit Schewardnadse. Dabei blieben die DDR-Interessen bereits völlig unbeachtet. In dem folgenden Gespräch mit Gorbatschow wurde dann klar: Die militärische Neutralität ist aufgehoben. Gorbatschow kann heute viel davon reden, die NATO-Ausdehnung nach Osten sei nie verabredet worden – sein Verhalten hat dafür die Tür geöffnet. Es gab nichts Verbindliches. Am folgenden Tag, am 10. Februar, flog Bundeskanzler Helmut Kohl, der von Baker informiert worden war, nach Moskau und erklärte anschließend: Nun seien alle Dinge geklärt.
Meine Schlußfolgerung ist: Gorbatschows so groß gefeierte Rolle bei der Vereinigung der beiden deutschen Staaten bestand darin, daß er so rechtzeitig kapitulierte und die sowjetischen Interessen preisgab, daß sich die USA in allem, was danach folgte, völlig durchsetzen konnten.
Am 7. Februar beschloß das Kabinett in Bonn, unverzüglich mit der DDR in Verhandlungen über eine Währungsunion zu treten. In der Öffentlichkeit wurde das Thema zuvor schon viel erörtert, auch in der Bevölkerung der DDR. Spielte bei dem Drei-Stufen-Plan die Möglichkeit der Einführung von D-Mark in der DDR eine Rolle?
Nein, dieser Plan steht im Gegensatz dazu, vor allem zu dem Tempo, das mit dieser Diskussion in der Bundesrepublik aufgemacht wurde. Er ging davon aus, daß die Vorschläge für eine Vertragsgemeinschaft, über die ich mit Kohl am 19.Dezember in Dresden gesprochen hatte, noch gültig sind. Die erste Stufe sollte eine Phase von etwa einem Jahr umfassen, in einer zweiten Phase sollte es eine Konföderation beider Staaten geben. Der erste Schritt wäre nicht die Währungsunion gewesen, sondern ein neuer Umgang beider Staaten miteinander bis hin zu einem föderativen Staat.
Gorbatschow bereitete sich am 25. und 26. Januar mit seinen Beratern auf das Gespräch am 30. Januar vor. Laut den Berichten darüber drängten ihn damals seine Berater, die DDR zu übergeben. Hat das am 30.Januar eine Rolle gespielt?
Aus den Archiven und aus meinen Gesprächen z. B. mit Falin geht hervor, daß der Termin am 30. Januar der Auslöser für diese Beratung war. Daran nahmen auch alle teil, die unmittelbar die Macht trugen – Ministerpräsident, Außenminister, der Chef des KGB. Auf der einen Seite stand dort Tschernjajew, der offen erklärte, man solle mit der DDR keine Verhandlungen mehr führen. Die UdSSR solle sich auf Bonn orientieren. Auf der anderen Seite stand Falin, der sich mit seinen Überlegungen noch einmal zum Teil durchsetzen konnte. Er machte deutlich, daß, wer etwas von der Bundesregierung haben wolle, nicht vorher schon die DDR ausliefern dürfe. So blieb der Termin 30. Januar, aber es sollte vor allem nach außen eine Art Balance demonstriert werden. Mit dem Verzicht auf die militärische Neutralität gegenüber Baker und Kohl war aber klar: Hier wird ein NATO-Deutschland entstehen.
Es war eine Sensation, als Gorbatschow am 30. Januar verkündete, niemand stehe einer Vereinigung der beiden deutschen Staaten prinzipiell entgegen. Bereitete das die Pressekonferenz vom 1. Februar vor?
Er hat diese Erklärung schon vor unserem Gespräch abgegeben. Damit war klar, daß die sowjetische Seite in diese Richtung drängte. Das bedeutete für uns, daß wir in diesem Prozeß noch mitarbeiten konnten und sollten. Bald wurde aber auch klar: Gorbatschow gab die Forderung nach militärischer Neutralität auf, und die Interessen der DDR würden von seiner Seite im Vereinigungsprozeß nicht unterstützt werden.
Offenbar hatte Helmut Kohl aber sehr früh Signale aus Moskau, daß die DDR übernommen werden könne. Oder trügt der Eindruck?
Da werden Historiker sicher noch mehr zusammentragen, als ein Politiker und Zeitzeugen sagen können. Fest steht, daß Kohl gemeinsam mit den USA in diesem Sinn handelte.
In Ihrer Erklärung vom 1. Februar hieß es: »Deutschland soll wieder einig Vaterland aller Bürger deutscher Nation werden. Damit von ihm nie mehr Gefahr für Leben und Gut seiner Nachbarn ausgeht, sind Verantwortungsbewußtsein, Behutsamkeit und Verständnis für das Machbare und für Europa Ertragbare erforderlich.« War das der Versuch, die Entwicklung in der DDR über sie hinauszutragen?
Es war vor allem der Versuch, die DDR als aktiven Faktor der Politik zu erhalten, ihre Souveränität als Faktor im Prozeß der Vereinigung zu wahren. Das zweite war: Es geht jetzt vor allem darum, wie weit wir die Interessen der DDR-Bürger durch eigene Gesetzgebung noch wahren können. Das war enorm wichtig, um aus der Koalitionsregierung zu der Regierung der Nationalen Verantwortung, die Anfang Februar gebildet wurde, zu kommen, in der auch die weiteren Parteien des Runden Tisches vertreten waren.
Für die Übernahme der Formulierung »Deutschland einig Vaterland«, die der DDR-Nationalhymne entnommen war, sind Sie scharf kritisiert worden. Wie sehen Sie das heute?
Für mich war wichtig, wie sich die Führung der SED-PDS verhielt. Von dort hieß es, das könne wohl nicht wahr sein. Gregor Gysi, der am 2. Februar bei Gorbatschow in Moskau war, vertrat die Modrow-Konzeption nicht. Er ging noch davon aus, daß die UdSSR von einem Untergang der DDR größten Schaden haben werde, was ja leider richtig war. Damals verstand ich Gysis Auffassung, aber meine Überzeugung war: Eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger der DDR drängt zur Vereinigung, und die Regierung trägt eine Verantwortung dafür, daß ihre Interessen dabei gebührende Beachtung finden.
War die DDR nach den Besuchen von Baker und Kohl im Februar in Moskau nur noch Objekt, nicht mehr Subjekt?
Wir mußten unsere Strategie ändern. Der Erhalt der DDR bei tiefer Umgestaltung stand nicht mehr zur Debatte. Jetzt ging es darum, welche Rechte für DDR-Bürger zu erhalten waren. Die Bodenreform hätte nie Bestand gehabt, wenn wir die sowjetische Regierung nicht veranlaßt und – ich will das Wort so sagen – auch gezwungen hätten, entsprechende Beschlüsse anzunehmen. Warum gezwungen? Die Lage war: Geht die UdSSR diesen Weg nicht mit, stößt die Moskauer Regierung im eigenen Land auf enormen Widerspruch. Ein Beweis war für mich die dortige Debatte am Ende der Verhandlungen der Großmächte im sogenannten Zwei-Plus-Vier-Vertrag. Dasselbe galt für das sogenannte Modrow-Gesetz, das Zehntausenden DDR-Bürgern Haus und Grundstück sicherte. Wir hatten auch eine Sozialcharta für die Vereinigung, aber die Regierung Lothar de Maizière hat die meisten dieser Dinge nicht im selben Maß verfolgt. Es lag der Entwurf einer neuen Verfassung der DDR vor – die Regierung vom 18. März hat sie nicht mehr für die Beratung in der Volkskammer freigegeben.
War das damals eine Art politischer Partisanentätigkeit?
Darüber mögen andere urteilen. Es war, darauf bestehe ich, die Wahrnehmung der Interessen der DDR-Bürger. Und damals haben Menschen wie Matthias Platzeck und sogar Rainer Eppelmann in der Regierung dabei mitgehandelt. Das war selbst am 13. Februar, als unser Kabinett in Bonn zu Besuch war, der Fall. Kohl gelang es auch unter den diskriminierenden Umständen, die er uns bereitete, nicht, öffentlich einen Keil in unsere Regierung zu treiben. Aber ich will auch hinzufügen: Wie viele Mitglieder meines Kabinetts andere Kanäle hatten – zu Parteien, zu Geheimdiensten –, weiß ich nicht. Ich hoffe, daß Archive dazu einmal Auskunft geben, ganz ohne Verdacht in dieser Richtung lebe ich aber nicht. Und so mancher, der bei den Wahlen im März Erfolg haben wollte, war bereit, ein demagogisches Spiel zu betreiben.
Welche Bilanz ziehen Sie heute 20 Jahre nach der Erklärung vom 1.Februar?
Wilhelm Pieck hatte das Wort »Von deutschem Boden soll nie wieder Krieg ausgehen« bei Gründung der DDR eingeführt, worauf sich Willy Brandt und andere westdeutsche Politiker später auch bezogen. Als nach der Vereinigung von DDR und Bundesrepublik das Wort von der »Normalität« Einzug hielt, fiel auch dieser Grundsatz, und es entstand eine neue Barriere zwischen Ost und West in Europa. Es gibt außerdem in der Bundesrepublik eine neue soziale Barriere, die sich z.B. darin ausdrückt, daß 40 Prozent der Bundeswehrsoldaten in Afghanistan aus Ostdeutschland stammen, wo weniger als 20 Prozent der Bevölkerung leben. Das hat mit der sozialen Lage junger Leute und ihrer Perspektivlosigkeit zu tun. Das muß mit auf die Waagschale, wenn die vergangenen 20 Jahre betrachtet werden. Wenn hier nicht ein anderer Umgang miteinander Platz greift, dann bleibt es bei kleinkarierten Sichtweisen, und selbst, was zusammengehören könnte, wird nicht zusammenwachsen.
Chronik:
* 4. Dezember 1989: DDR-Ministerpräsident Hans Modrow und der sowjetische Staats- und Parteiführer Michail Gorbatschow treffen in Moskau zum erstenmal zusammen.
* 8./9. Dezember: In Moskau tagt das Zentralkomitee der KPdSU. Gorbatschow erklärt, die DDR werde von der Sowjetunion nicht im Stich gelassen.
* 9./10. Januar 1990: In Sofia findet die 45. Tagung des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe statt. Die Sowjetunion schlägt die Umstellung des Handels auf konvertierbare Währung vor
* 25./26. Januar: In Moskau bereitet sich die sowjetische Führungsspitze intern auf das vereinbarte Gespräch mit Modrow vor. Einige Berater Gorbatschows drängen, nur noch mit Bonn zu verhandeln und nicht mehr mit der DDR.
* 30. Januar 1990: Modrow trifft Gorbatschow in Moskau. Zuvor erklärt Gorbatschow gegenüber der Presse, niemand stelle die deutsche Einheit prinzipiell in Frage.
* 1. Februar: Modrow veröffentlicht auf einer Pressekonferenz in Berlin die Konzeption »Für Deutschland einig Vaterland«.
* 8./10. Februar: US-Außenminister James Baker spricht in Moskau mit dem sowjetischen Außenminister Eduard Schewardnadse und Gorbatschow. Intern wird vereinbart, daß ein vereintes Deutschland Mitglied der NATO wird.
* 11. Februar: Bundeskanzler Helmut Kohl spricht mit Gorbatschow in Moskau. Die Sowjetunion erklärt offiziell, daß die Frage der deutschen Einheit von den Deutschen selbst entschieden werden muß. Kohl spricht von einem historischen Ergebnis. Die Junge Welt kommentiert: »Eine Einverleibung der DDR in die NATO aber, daran dürfte auch Gorbatschow keinen Zweifel gelassen haben, wird in der UdSSR nicht auf Verständnis rechnen können.«